Rechte Gruppierungen aus Sicht des Verfassungsschutzes NRW

Istha in Hessen, 0:30 Uhr in der Nacht zum 2. Juni dieses Jahres. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wird auf der Terrasse seines Hauses niedergeschossen; er stirbt wenige Stunden später im Krankenhaus. Lübcke hatte sich auf einer Bürgerversammlung 2015 für die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft und gegen rechte Parolen ausgesprochen. Ein Video davon machte in rechten Kreisen die Runde, Lübcke wird wiederholt mit dem Tod bedroht. Jetzt ist er tot. Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um Stephan E., er soll bis vor Kurzem Kontakt zur rechtsextremen Szene gehabt haben. Zum Tatmotiv schweigt E. bis jetzt, laut Medienberichten soll er Lübcke jedoch unter anderem als „Volksverräter” bezeichnet haben.

Seitdem diskutiert die Republik: Wie konnte es überhaupt soweit kommen? Nicht wenige machen dafür verschärfte rechte Rhetorik verantwortlich, insbesondere Lokalpolitiker*innen beklagen sich. Gemeint ist dabei aber nicht (nur) die rechtsextreme Szene, sondern beispielsweise auch die ehemalige CDU-Abgeordnete und jetzige AfD-Unterstützerin Erika Steinbach, welche sich auf Twitter mehrfach zu Lübckes Auftritt abfällig äußerte. Der Vorwurf, dem sich die AfD ausgesetzt sieht, lautet, dass die Partei radikale Rhetorik an den Tag lege, die derartige Taten begünstige. Die Trennungslinie zwischen schon rechtsextrem und noch nicht rechtsextrem verwässert dabei.

 

Jemand, der sich beruflich mit derartigen themenkomplexen auseinandersetzt, ist Dr. Christoph Busch vom Verfassungsschutz NRW. Er nennt diesen Prozess „Entgrenzung des Rechtsextremismus“ und macht deutlich, dass es rechtsextremistischen Positionen insbesondere seit 2015 verstärkt gelingt, „Brücken“ in die Gesellschaft zu errichten. Rechtsextreme würden bei polarisierenden Thematiken wie Islam, Migration und Flüchtlinge vermehrt Zuspruch aus der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft erhalten. Daraus entsteht etwas, was Dr. Busch eine “Mischszene” nennt: Am Beispiel von Pegida erläutert er, wie sich Bürgertum, bestehend aus größtenteils Politikverdrossenen, und Rechtsextreme vermischen: Beide rufen gemeinsam zum Sturz des aktuellen Systems auf, die eine Seite jedoch, weil sie beispielsweise mit der Situation des lokalen Nahverkehrs nicht zufrieden ist, die andere, weil sie zumindest in Teilen das Grundgesetz ablehnt.

 

Zusätzlich sei bereits seit einigen Jahren ein Strategiewechsel in der Szene zu beobachten. Die sogenannte Neue Rechte beziehe sich nicht mehr auf den Nationalsozialismus und trete nach außen hin wesentlich gemäßigter auf, sodass es ihr leichter falle, an die Gesellschaft “anzudocken”. Soziale Netzwerke werden viel offensiver genutzt, was eine deutlich bessere und flexiblere Organisation und eine klar erweiterte Reichweite zur Folge hat. Jeder mit einem Internetzugang kann ohne jede Zeitverzögerung den Inhalten beispielsweise der Identitären Bewegung in den sozialen Netzwerken folgen. Für eine Radikalisierung braucht es keinen persönlichen Kontakt zur Szene mehr.

Insbesondere im Bereich der Darstellung nach Außen und an der Art und Weise der Kommunikation hat sich einiges geändert. Die neue Rechte publiziert medial mit hohem Aufwand und auf hohem Niveau. Die Inhalte von rechten Lifestyle-Magazinen seien nicht immer rechts oder zumindest nicht als solche zu erkenne. Eine moderatere Sprache gehört genauso dazu wie regelmäßige Medienevents, die den Anschein einer harmlosen politischen Bewegung erzeugen. Die dort  präsentierten Inhalte: Zu großen Teilen rechtsextrem.

 

Auch die AfD profitiere davon: Positionen, die noch vor wenigen Jahren als rechtsextrem verpönt waren, können nun durch die Partei vertreten werden. Dabei machte Dr. Busch deutlich, dass die Problematik der Entgrenzung des Rechtsextremismus auch für den Verfassungsschutz im Bezug auf die AfD relevant ist: Einzelne Teile der Partei, wie etwa der rechtsnationale Flügel oder regionale Ableger der Jungen Alternative, werden durch den Verfassungsschutz aufgrund rechtsextremistischer Bestrebungen als Verdachtsfall eingestuft.

Keinen Zweifel ließ Dr. Busch daran, dass die AfD rechtsextremes Wählerpotential absorbiert, indem er einen Vertreter der Partei zitiert: „Die AfD ist dafür verantwortlich, dass die NPD nicht mehr gewählt wird.”

Wie und ob sich der parteiinterne Machtkampf dabei entscheiden wird, ob rechtsextreme oder liberale Kräfte die Oberhand gewinnen werden, bleibt weiter abzuwarten  - auch, wenn dieser Prozess seit der Gründung der AfD immer weiter voranschreitet.

 

Fakt ist aber jedenfalls: Die Enttabuisierung vieler Themen und sprachlichen Ausdrucksweisen durch die neue Entgrenzung des Rechtsextremismus wird sich nicht so einfach umkehren lassen. Oder bildhaft: “Wenn der Zaun kaputt ist, ist er kaputt. Ich glaube nicht, dass wir ihn noch einmal reparieren können.”