"Weißrussland - Die letzte Diktatur Europas?"

„Stellen Sie sich vor, sie sitzen mit Kommunisten und Nazis in einem Raum und versuchen, diese demokratisch zu regieren – Glauben Sie, das funktioniert?“

So und nicht weniger provokant begann Mikita Merzlou – Doktorand am Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaften der Universität Bochum – seinen Vortrag zum Thema „Weißrussland – Die letzte Diktatur Europas?“. Zentraler Gedanke war dabei die Betrachtung von (fehlender) Kongruenz zwischen politischer Struktur und Kultur: Kann der Versuch, „undemokratische“ Bürger demokratisch zu regieren, gelingen?

Unser Referent Herr Merzlou widmet sich diesem Thema dabei nicht von ungefähr, wurde er doch 1993 selbst in Weißrussland geboren – genau ein Jahr, bevor der bis heute amtierende Präsident Aljaksandr Lukaschenka (Alexander Lukaschenko) an die Macht kam. Merzlou wollte dabei zunächst thematisch auf den Großen Terror fokussiert promovieren und fragte dazu Akten in den weißrussischen Archiven an. Eine Antwort erhielt er vom belarusssischen Geheimdienst, der bis heute KGB heißt. Deutlich wurde dabei, dass die Weitergabe solcher Daten, insbesondere an Deutsche wegen derer im Zweiten Weltkrieg begangenen Gräuel, unerwünscht sei.

Auch aus diesem Erlebnis heraus entwuchs der Gedanke, sich vielmehr der heutigen Situation in Weißrussland zu widmen, wobei es gleichzeitig als erstes Indiz diente, dass die Situation in Weißrussland bis heute stark von der fehlenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit geprägt sei. Die gesellschaftlichen Strukturen seien noch stark durch wirtschaftliche Abhängigkeiten vom Staat geprägt, die zu einer teils unkritischen Einstellung gegenüber dem bestehenden politischen System führen würden – eine Einstellung, die den russischen Soziologen Aleksandr Zinovyev veranlasste, den „Homo Sovieticus“ auszumachen.

Neben diesen persönlichen Erfahrungen versucht Merzlou, anhand empirischer Erhebungen weitere Indikatoren zu bewerten: Wie viele Bürger machen den Staat für ihre wirtschaftliche Prosperität verantwortlich, wie viele ihre eigenen Leistungen? Wie viele Menschen stehen dem politischen System derart feindlich gesonnen gegenüber, dass sie an Demonstrationen teilnehmen? In wie vielen Städten gibt es Proteste? Mit diesen Zahlen zeichnet Merzlou ein Bild der politischen Kultur in Weißrussland – Wie demokratisch ist die Bevölkerung? Auffallend ist dabei die Gesamtsituation in den ehemaligen Ostblock-Staaten. Nach 1990 wurden dort vielfach demokratische Systeme etabliert, die angesichts einer lange Zeit anders orientierten politischen Kultur allerdings vielerorts vor erhebliche Herausforderungen gestellt wurde. So stehe auch die oftmals noch sozial-paternalistische Haltung der weißrussischen Bevölkerung einem funktionierenden demokratischen System im Weg; die Proteste gegen die zahlreichen Unterminierungen der Demokratie in Weißrussland (z. B. Ausschluss von oppositionellen Kandidaten, teilweise verschwindende oppositionelle Kandidaten, Vorwürfe der Wahlmanipulation, fundamentale demokratische Grundsätze einschränkende Wahlgesetze) halten sich in Grenzen, auch, weil es als gefährlich empfunden wird, sich in Weißrussland zur politischen Situation zu äußern. Brüche bekam diese mangelnde Bereitschaft zum Protest erst durch eine Wirtschaftskrise in der Mitte der 2010er-Jahre, die liberalisierende Reformen nötig machte. Die in dieser Zeit stattfindenden Proteste richteten sich aber nicht etwa gegen die politische Situation im Land: „Die Forderungen bezogen sich eher auf die Widerherstellung der sozial-paternalistischen Situation vor der Wirtschaftskrise“, so Merzlou.

Und so bleibt vor allem festzuhalten, dass die Situation in Weißrussland gerade auch aufgrund der fehlenden Kongruenz zwischen politischer Kultur und politischer Struktur angespannt bleiben dürfte. Merzlou hat sich dabei vorgenommen, über die bisher bestehende Forschung hinaus in seine Betrachtungen auch die politische Kultur der Führungseliten gesondert mit einzubeziehen – ob angesichts der erwarteten Ergebnisse von einer baldigen demokratischeren Entwicklung ausgegangen werden kann, darf allerdings bezweifelt werden.