„Wer ist der Ansicht, dass Europa bedroht wird?“

„Und wenn ja, von wem?“. Niemand meldet sich. Müssen die Staaten Europas dann überhaupt Sicherheitspolitik betreiben? Das Publikum bleibt Frau Dr. Annegret Bendiek von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die Antwort schuldig. Sie selbst ist sich allerdings sicher: Ja, Europa muss. Und zwar gemeinsam, ebenso ist außenpolitische Kooperation erforderlich. Denn würde man diese Frage in den baltischen Staaten stellen, würde die Resonanz vermutlich klar gegenteilig ausfallen, das Gefühl der europäischen Unantastbarkeit sei vor allem ein deutsches Empfinden. Zu diesem Schluss kam Dr. Annegret Bendiek vor über fünfzig Gästen, die sich vergangenen Freitagnachmittag im Institut für Politikwissenschaft der Universität in Münster versammelt hatten.

In einem halbstündigen Vortrag gab Dr. Bendiek eine Einführung über das Thema der Veranstaltung und der darin stattfindenden Diskussionsrunde, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas (GASP).  Europa habe sehr hohe Ansprüche an sich selbst, aber viel zu wenig Mittel, Interesse und Motivation,  die daraus resultierenden Erwartungen gegenüber den einzelnen Mitgliedsstaaten, insbesondere im Osten der Union, aber auch gegenüber den USA zu erfüllen. Gleichzeitig zeige sich, wie notwendig eine funktionierende GASP doch eigentlich ist: Zum einen mache der Reflex, auf harte Reaktionen zurückzugreifen, insbesondere auf die NATO,  vor dem Hintergrund der zunehmend abkühlenden Beziehungen der EU zum wichtigsten NATO-Partner USA deutlich, dass die GASP in Zukunft wichtiger und notweniger werden wird. Zum anderen werde, im Hinblick auf die nahenden Europawahlen, das europäische Projekt durch das Erstarken von populistischen Kräften von Innen heraus erstmals ernsthaft in Frage und auf die Probe gestellt.

Muss sich Europa also neu aufstellen? Muss es zusammenrücken, nicht nur wirtschaftlich wie in der Vergangenheit, sondern im Hinblick auf klassische Sicherheitspolitik? Wie werden Herausforderungen gelöst, beispielsweise die klare Heterogenität er Interessen innerhalb der Union? Vor diesem Hintergrund verwies Dr. Bendiek auf die Problematik der Entscheidungshoheit der einzelnen Regierungen in der Ausgestaltung der GASP: „Die Bundeskanzlerin steigt als Exekutive in Berlin ins Flugzeug und verlässt es als Legislative in Brüssel“.

Anschließend an den Vortrag diskutierte Dr. Bendiek gemeinsam mit Prof. Dr. Reinhard Meyers, Experte für internationale Beziehungen, sowie Friedens- und Konfliktforschung und Prof. Dr. Wichard Woyke, Experte europäische und insbesondere sicherheitsbezogene europäische Politik  und dem Publikum über verschiedene Fragestellungen: Während Dr. Bendiek auf die Frage, wie europäische Sicherheitspolitik zukünftig gestaltet sein wird, eine Konzentration auf klassische Sicherheitspolitik und konventionelle Rüstung prognostizierte, lenkte Prof. Meyers den Fokus auf eine neue, digitale Sicherheitspolitik: „Es wird keine Vorwärtsverteidigung im klassischen Sinn mehr geben […]. Sie dürfen an dieser Stelle nicht mehr vorrangig an russische Panzer denken“. Zwar hätten konventionelle Armeen nach wie vor eine hohe Bedeutung, eine Neudefinition der gemeinsamen Verteidigungsstrategie müsse aber einen Fokus auf den Bereich IT und Internet legen. Prof. Woyke gab zu bedenken, dass die Annahme, Europa würde keine Fähigkeiten im Cyberbereich kumulieren irreführend sei und dass sich Europa auch in anderen Bereichen, beispielsweise der Handelspolitik ebenfalls zusammenfinden muss.

„Die Ost-Erweiterung ist das größte Erfolgsprojekt der EU überhaupt“. Prof. Woyke stellte auf die Frage, ob die EU sich mit der Ost-Erweiterung übernommen habe, die Gegenfrage, wie Osteuropa aussehen würde, wenn es nach wie vor das westeuropäische „Kerneuropa“ gäbe und in Osteuropa Staatenverbunde nach jugoslawischem Vorbild und dem erhöhten Kriegspotential. Die aktuellen Regierungssituationen in Ungarn und Polen hätte man damals nicht vorhersehen können und zumindest in Polen gebe auf kommunaler Ebene klare Bekenntnisse zu Europa. Während Dr. Bendiek die Sanktionspolitik der EU gegenüber Ungarn und Polen als zu marginal kritisierte, brachte Prof. Meyers ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten in Spiel.

Da bei einer Diskussion über die GASP auch das Thema „EU-Armee“ nicht fehlen darf, wurde aus dem Publikum die Frage gestellt, ob eine EU-Armee mehr Einigkeit nach innen schaffen könne. Prof. Woyke hält eine EU-Armee hingegen generell für Symbolpolitik, was er auf zwei Tatsachen zurückführte: Konventionelle Armeen würden sowieso an Wichtigkeit verlieren und darüber hinaus sei zumindest die Bundeswehr überhaupt nicht in der Lage, die Ansprüche einer EU-Armee zu erfüllen: „Die Bundeswehr in Ihrem heutigen Zustand ist der Traum der Friedensbewegung der 70er Jahre“.